Pfarrer Thomas Catta: Predigt Wallfahrt nach Dieburg

Liebe Schwestern und Brüder,

es ist 970 Jahre her, da lebte im Kloster auf der Insel Reichenau ein Mönch: Hermann von Altshausen.

Einer der größten Gelehrten seiner Zeit.  Hermann hatte eine Weltchronik verfasst und astronomische Studien betrieben. Dass wir heute noch die Stunde in 60 Minuten einteilen, geht auf ihn zurück. Er war ein bedeutender Musiker und hat ein eigenes Notensystem erfunden.

Ein Genie! – Aber körperlich gesehen ein „Häufchen Elend“. Hermann ist seit seiner Geburt spastisch gelähmt, sein Rücken und seine Gliedmaße verkrümmt. Er kann sich nicht allein bewegen, meist muss er gefüttert werden. Nur gelegentlich, wenn ihn mal nicht schmerzhafte Krämpfe überkommen, kann er mit Mühe schreiben. Fast noch grausamer sind die seelischen Qualen, die er von seinen Mitbrüdern erfährt. Sein Abt hat ihm wegen seiner Gebrechen einige Vergünstigungen gewährt. Er muss nicht wie die anderen auf einer harten Grasmatratze schlafen, sein Lager ist mit Polstern ausgelegt. Ein junger Mönch wird ihm als Gehilfe an die Seite gegeben.

Solche Vergünstigungen erregen Neid, den Neid der anderen Mönche. Sie schikanieren Hermann, demütigen ihn, machen ihn schlecht. Mobbing in Hochform!

Die enge Bindung an seine Mutter, die zu ihrem Kind mit Behinderung stand, war vielleicht Ursache, dass Hermann als Mönch in tiefer Weise einen Zugang zur Gottesmutter fand; Maria konnte er all seine Sorgen anvertrauen.

Eines Abends sitzt Hermann wieder auf seinem Nachtlager. Er merkt, wie die Krämpfe kommen; er beginnt ein Gebet zur Gottesmutter zu formulieren, das weltberühmt werden sollte: das „Salve Regina“.

Salve Regina, Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit; …Zu dir rufen wir, zu dir seufzen wir …in diesem Tal der Tränen. …wende deine barmherzigen Augen uns zu und …zeige uns Jesus. – Immer wieder wiederholt er: „Maria, Zeige uns Jesus.“

„Zeige uns Jesus“ – im Dieburger Gnadenbild, liebe Schwestern und Brüder, zeigt uns Maria ihren Sohn Jesus; sie hält ihn uns hin. Und aus den Gesichtszügen Mariens können wir die Einladung lesen:  All Eure Sorge werft auf ihn!“ Und Sorgen haben wir heute zu Genüge.

Ich denke an die tausenden Menschen, die in realer Sorge um Leib und Leben fliehen müssen, besonders an die vielen unbegleiteten Kinder und Jugendlichen und an die Tausenden, die im Mittelmeer ertrinken. 

Der Egoismus, der Neid, das Gefühl zu kurz zu kommen, löst Fremden-feindlichkeit und Rassismus aus. Das weltweite Wiedererstarken des Nationalismus sorgt viele, nicht zuletzt Papst Franziskus. Franziskus sagt : „Wenn wir unser Herz verschließen und unsere Solidarität verweigern, werden sich die Armen holen, was ihnen zusteht, ein Stück vom Wohlstandskuchen, der teils auf ihrem Rücken und zu ihren Lasten entstanden ist.“  In seiner Pfingstpredigt zeigte sich Papst Franziskus in großer Sorge über die sozialen Medien. Er sprach von einer „Kultur der Beleidigung“. Es sei im Internet Mode geworden, sich gegenseitig voller Hass zu verunglimpfen, Kampagnen gegen Andersdenkende zu organisieren“.

In seiner Enzyklika „Laudato si“ sorgt sich der Papst über die dramatischen Folgen des Klimawandels. Die Waldbrände am Amazonas machen uns bewusst, wie gefährdet unsere Erde ist und wie berechtigt die Sorge um Gottes Schöpfung ist. –

Viele Sorgen haben in der Kirche! Unsere Kirche ist im Tief, erschüttert durch die vielen Missbrauchsskandale, durch interne Grabenkämpfe, durch Machtgehabe und Klerikalismus, was mit beigetragen hat, dass so vielen Kindern durch sexuellen Missbrauch Leid angetan werden konnte; Leid, das nicht mehr heilen kann.

Viel zu lange galt die Sorge dem Ansehen der Kirche als den Opfern.

Es gibt in Deutschland kaum noch Priesterweihen und immer weniger, die einen Beruf in der Seelsorge anstreben. Es droht der massive Schwund an Mitgliedern und Finanzen – sehr viele treten aus, viele sind von der Kirche enttäuscht, warten vergeblich auf Reformen, fühlen sich ausgegrenzt; bei vielen ist der Glaube längst verdunstet. Viele der Sorgen, die uns bedrängen, werden heute in den Fürbitten während der Lichterprozession ausgesprochen und zum Himmel geschickt. Und mit dem Licht in der Hand dürfen wir bei der Lichterprozession wie der Mönch Hermann beten: Maria, zeige uns in all unseren Sorgen Jesus!

Maria, Zeige uns Jesus!  Immer wieder richte Hermann diese drei Worte an die Gottesmutter: Und dann sieht vor seinem inneren Auge Jesus, wie er mit seinen Jüngern im Abendmahlssaal sitzt, wie er eine Schüssel nimmt und den Jünger die Füße wäscht. Er sieht, wie Jesus sich ganz tief erniedrigt, wie er sich demütigt und sogar dem Judas die Füße wäscht, obwohl er spürt, dass der ihn verraten wird.

Durch dieses Jesusbild erfährt Hermann in seinem Herzen einen tiefen Frieden.

Die Demütigungen, die er von seinen Mitbrüdern erfahren hat, sind nicht weggewischt, sie schmerzen immer noch, aber sie ziehen ihn mit Jesus vor Augen nicht mehr in die Depression, sie haben keine wirkliche Macht mehr über ihn.

Maria, zeige uns Jesus! Wenn die unsere Sorgen wie eine große Wasserflut über unserem Kopf zusammenschlagen, dann wird uns Maria vielleicht Jesus zeigen, wie er mitten im Sturm im Boot steht, das von Wellen hin und her geworfen wird. Und er gebietet dem Sturm: „Schweig, sei still!“ Und der Sturm legt sich. Jesus ist ganz unbesorgt; denn er weiß Gott, den Vater an seiner Seite.

Eltern, die sich Sorgen um ihre Kinder machen, die die Wege ihrer Kinder nicht verstehen, zeigt Maria vielleicht das Bild des zwölfjährigen Jesus, als er bei der Wallfahrt nach Jerusalem sich von den Eltern getrennt und im Tempel zurückgeblieben ist. Maria und Josef suchen ihn mit Schmerzen, verärgert, wütend -aus Sorge um ihr Kind. Doch Jesus scheint sorglos…, ist er doch im Haus seines Vaters.

Allen, die krank sind, die mit der Diagnose einer heimtückischen Krankheit fertig werden müssen, die Angst vor dem Sterben, Angst vor der  eigenen Pflegebedürftigkeit haben,  zeigt Maria Jesus, wie er am Ölberg den Todeskampf gekämpft hat, wie sein Schweiß zu Blutstropfen wurde, wie aber auch Engel kamen und ihn stärkten.

Der Blick auf den leidenden Jesus eröffnet mir: Ich darf Schwäche zeigen, ich darf um Hilfe bitten und auf Solidarität und Unterstützung hoffen; ich bin nicht auf mich alleine gestellt. Wenn wir Bilder aus dem Leben Jesu sehen, Bilder, in denen wir uns wiederfinden können, dann wird freilich nicht gleich alles wieder gut, aber dann  bekommen wir vielleicht die Kraft von einer Kirche in Sorge, zu einer sorgenden  Kirche zu werden;  Eine Kirche, die Fürsorglichkeit und Barmherzigkeit in den Mittelpunkt stellt.

Maria zeige uns Jesus, damit wir noch stärker zusammenrücken, um Sorgen zu teilen und dadurch zu lindern. Eine sorgende Kirche heißt: aufeinander zugehen, aufeinander zu hören voneinander zu lernen, einander zu verzeihen, zusammenzuhalten, Unterschiede und andere Meinungen auszuhalten und mutig Neues auszuprobieren?

Eine sorgende Kirche hilft mit, eine Sorgekultur in unserer Gesellschaft aufzubauen.

Maria und Jesus; für mich das Bild einer sorgenden Kirche: die Mutter steht unter dem Kreuz in tiefer Sorge um ihren Sohn; Jesus, der in Sorge um die Mutter vom Kreuz herab zu Johannes sagt: Siehe, deine Mutter und zu Maria, siehe dein Sohn.   Jesus stiftet im Angesicht des Todes eine sorgende Gemeinschaft; er will auch uns anstiften, eine herzliche, eine sorgende Kirche zu werden.  Eine Kirche, die zu ihren Fehlern, zu ihrem Versagen, ihren falschen Entscheidungen steht, die die trübe Wirklichkeit nicht schönredet, die aber auch in aller Demut um ihre Stärken weiß und sich nicht in Selbstmitleid ergeht, die sich in Politik und Gesellschaft einmischt, die Stellung bezieht, die sich nicht den Mund verbieten lässt, die für die Schwachen kämpft. Maria, zeige uns Jesus!

Maria, will uns freilich auch den Jesus zeigen, der mit seinen Freunden
kräftig gefeiert hat, der die Kinder in seine Arme genommen hat, der sich gefreut hat und lachen konnte. Auch das macht eine sorgende Kirche aus: bei allen Ängsten und Nöten, bei allem Leidvollen und Schweren in unserem Leben und unserer Zeit, nicht blind zu werden für die Freuden des Lebens, auch die kleinen und unscheinbaren, sondern sie froh und dankbar wahrzunehmen und zu teilen. Der Hl. Augustinus sagt „die Seele nährt sich an dem, worüber sie sich freut!“

Eine sorgende Kirche teilt auch die Freude, freut sich am Glück des anderen:
Auch das macht unsere Wallfahrt aus: miteinander die Freude zu teilen, vor allem die Freude am Glauben.

„Maria, zeige uns Jesus!“ Maria, die „Trösterin der Betrübten“ zeigt uns den toten Sohn auf ihrem Schoß;  dass ist aber nicht das letzte Bild; Maria, die „Quelle aller Freuden“, zeigt uns das Bild des auferstandenen Christus, das Bild der vollkommenen Freude, die keine Sorgen mehr kennt. 

Das ist die große Verheißung unseres Glaubens: Am Ende wird alles gut und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.* Amen.

(* nach Oscar Wilde)